Collection

Maronière

Artist
Goldschmied: John Samuel Hunt, Hunt & Roskell
Locality
London
Date
zwischen 1843 und 1844
Material
Silber, gegossen, getrieben, graviert, punziert
Dimensions
H. 7,5 cm, B. 27 cm, G. (93/160 und 93/161 zusammen) 3791 g
Location
Fürstliche Schatzkammer Thurn und Taxis
Inventory Number
93/160
Relation
Inv. No. 93/151 - 93/184
Acquisition
Öffentlich-rechtlicher Übertragungsvertrag 1993, Fürst Thurn und Taxis Kunstsammlungen, Regensburg

Das ungewöhnlich gut dokumentierte Silberservice besitzt für die Geschichte der Thurn und Taxis'schen Silberkammer während des 19. Jahrhunderts herausragende Bedeutung, da sich hier - im Übergang von der älteren zur jüngeren Generation - ein grundlegender Geschmackswandel äußert. Der älteste überlebende Sohn Fürst Maximilian Karls, Erbprinz Maximilian Anton, der sich 1858 mit Helene Herzogin in Bayern vermählt hatte, etablierte 1859 in Schloß Taxis eine äußerst aufwendige Hofhaltung in modernstem Stile. So wurden für Schloß Taxis umfangreiche Erwerbungen getätigt, vom Münchner Adreßbuch des Jahres 1859 bis hin zu 21 Wagen mitsamt allem Zubehör. Gleichsam den Mittelpunkt der Ankäufe bildeten die hier behandelten Silbergegenstände aus einer der führenden englischen Goldschmiede-Manufakturen, mit denen ein Repräsentant des Hauses Thurn und Taxis abermals mit hoher Sensibilität dem zeitgenössischen Formempfinden Rechnung trug.
Bereits 1844 waren bei der Londoner Firma Hunt and Roskell die beiden Maronenbehälter (Kat.-Nr. 130a), als ausgesprochene Einzelstücke, zum Preis von 1030 Gulden 54 Kreuzer erworben worden; späterhin fanden diese beiden "Marronnières" wohl keine Verwendung im Zusammenhang mit dem für die erbprinzliche Hofhaltung bestimmten Silber englischer Herkunft. Dessen Ankauf erfolgte 1859 nicht über einen Zwischenhändler, sondern unmittelbar in London bei der Firma Hunt and Roskell selbst, wie aus einem Hinweis auf die - heute verlorene - Korrespondenz mit Hunt and Roskell hervorzugehen scheint; die Bezahlung wurde freilich, laut fürstlichem Dekret vom 5. März 1860, erst im folgenden Jahr vorgenommen. Allein die vier mit den Goldschmiedemarken von Hunt and Roskell versehenen Weinkaraffen (Kat.-Nr. 130k) erwarb Erbprinz Maximilian Anton nicht in London, sondern laut fürstlichem Dekret vom 5. November 1859 in München zum Preis von 997 Gulden 17 Kreuzer. Darum weisen sie auch kein Wappen auf - ganz im Gegensatz zu allen 1859 in London angekauften Silberobjekten, die das Wappen Erbprinz Maximilian Antons tragen (das erbprinzliche Wappen zeigt das Kleinod des Königlich Bayerischen Hubertusritterordens beziehungsweise das des Fürstlich Thurn und Taxis'schen Hausordens, jedoch nicht die Kollane des Ordens vom Goldenen Vlies, in den der Erbprinz erst 1862 aufgenommen wurde, während sein Vater Maximilian Karl bereits seit 1841 Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies war). Da das Wappen des Erbprinzen bei den Londoner Silbergegenständen - mit Ausnahme des Tabletts (Kat.-Nr. 130b) und der beiden Kredenzen (Kat.-Nr. 130i) - mitgegossen ist, muß es bereits im Gußmodell vorhanden gewesen sein. Demnach handelt es sich hier zweifellos um einen speziellen Auftrag des Hauses Thurn und Taxis (im Lager der Firma Hunt and Roskell muß hingegen das bereits 1850-1851 gefertigte Tablett Kat.-Nr. 130b vorhanden gewesen sein, das demgemäß das Erbprinzenwappen in gravierter und nicht in gegossener Form aufweist).
Nach Aussage der Regensburger Silberkammerinventare des 19. Jahrhunderts wurde 1859 kein komplettes Service erworben, sondern vornehmlich in den Funktionsformen höchst differenzierte Tafel- und Dessertbestecke sowie 16 Gewürz- und Salzgefäße mit 16 Löffelchen (Kat.-Nr. 130j,n), die gemeinsam mit Tellern aus Porzellan und Glas verwendet werden konnten. So läßt sich annehmen, daß die 48 Dessertbestecke in silbervergoldeter Ausführung (Kat.-Nr. 130t,y), die von Hunt and Roskell zum Preis von 2268 Gulden geliefert wurden, mit den - ursprünglich 48 - Glastellern der Firma Franz Steigerwald (Kat.-Nr. 131) ein zusammenhängendes Ensemble bildeten.
Keiner weiteren Ergänzung bedurfte hingegen das im gleichen Jahr erworbene Teeservice der Firma Hunt and Roskell, das sich als kompositorisch geschlossener Komplex präsentiert (Kat.-Nr. 130a-i,m,x). Erst die archivalisch gesicherte Tatsache, daß es sich bei diesen 1859-1860 in das Inventar der fürstlichen Silberkammer aufgenommen Objekten um Erwerbungen für die Hofhaltung des 28-jährigen Erbprinzen handelt, macht deren ungewöhnlichen Stilmodus verständlich: Maximilian Anton entschied sich für glanzvolle Zeugnisse im Stile des Rokoko, wie man sie in Regensburg bislang nicht kannte, und wandte sich dabei nicht etwa nach Berlin, Wien oder Paris, sondern nach London. Die mit prominenten Aufträgen bedachte Firma Hunt and Roskell, die nicht zuletzt auf der Londoner Weltausstellung des Jahres 1851 mit aufsehenerregenden Arbeiten hervorgetreten war, konnte für die Modernität des Stils wie auch für die vorzügliche Handwerksqualität des äußerst schwer ausgeführten Silbers sichere Gewähr bieten; nicht zuletzt zeichnete sich das verarbeitete Material durch den hohen Feingehalt der englischen Erzeugnisse aus.
Das zum Gesamtpreis von 8513 Gulden erworbene Teeservice besteht aus einem großen Tablett, einem Heißwasserkessel einschließlich Rechaud, zwei Teekannen, zwei Paaren von größeren und kleineren Sahnekännchen, zwei Paaren von größeren und kleineren Zuckergefäßen sowie zwei kleineren Anbietplatten (in den Inventaren "Credenzen" genannt). Ferner gehören zu dem Teeservice 48 Teelöffel, von denen noch 46 erhalten sind, sowie acht Zuckerzangen. Das dominierende Objekt des Ensembles ist der imposante Heißwasserkessel, der in die gabelförmige Halterung des hohen Rechauds eingehängt wird, so daß er sich leicht herausnehmen läßt. Offenkundig ist das geradezu monumentale Gefäß formal englischen Vorbildern des zweiten Drittels des 18. Jahrhunderts im Stil eines üppigen Rokoko nachempfunden; hier sei etwa auf einen von Charles Kandler geschaffenen Heißwasserkessel im Londoner Victoria and Albert Museum verwiesen. Die Übereinstimmungen äußern sich nicht nur in der Grundgestalt des nach oben hin birnförmig ausladenden Korpus, sondern auch in dessen figürlichem Reliefdekor, der großflächig die Wandung einnimmt. Vergleichbar ist zudem die Bildung des hohen Griffs, der aus zwei hermenartigen weiblichen Gestalten hervorgeht. Bei dem Regensburger Heißwasserkessel wird der Deckel wird jedoch - im Gegensatz zu den Modellen des 18. Jahrhunderts - nicht von einem Putto, sondern von zwei Putti bekrönt, die den hochaufragenden Schild mit dem Thurn und Taxis'schen Wappen halten. Nicht zuletzt begegnet selbst das Figurenmotiv der Rechaudstützen bei den Silberobjekten des englischen Rokoko. So kann der Heißwasserkessel des Thurn und Taxis-Teeservices als eine aus der Auseinandersetzung mit dem englischen 18. Jahrhundert erwachsene Schöpfung der hochviktorianischen Goldschmiedekunst gelten, die figürliche und ornamentale Züge in einem stark bewegten Gesamtgebilde von übersteigerter Exuberanz verschmilzt.
Eine eigene Kategorie bilden die vier formschönen Glaskaraffen, die in den Regensburger Inventaren als Weinkannen bezeichnet werden. In England ging man früher als auf dem Kontinent dazu über, Wein in Flaschen abzufüllen, die auf eigenen Flaschenständern auf der Tafel Platz fanden. Doch verwendete man oft auch Glaskaraffen, die insbesondere Rotwein aufnahmen. Dementsprechend zeigt deren Silbermontierung häufig bewegtes Weinlaub. Dies gilt auch für die Regensburger Weinkannen, die zu den bemerkenswertesten Beispielen ihrer Gattung zählen.
Die beiden Maronengefäße nehmen schon aufgrund ihrer früheren Entstehung eine Sonderstellung innerhalb des Londoner Silbers aus Thurn und Taxis-Besitz ein. Gefäße zum Servieren heißer Maronen sind etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bekannt. Da Maronen oft in einer gefalteten Serviette dargereicht wurden, um die Hitze zu erhalten, kam in der Goldschmiedekunst des 19. Jahrhunderts ein spezieller Typus auf, der eben jene textile Form in das Material des Silbers überträgt: Auf einem Teller liegt der einer Serviette nachgebildete Maronenbehälter, der einen leicht gewölbten Scharnierdeckel besitzt. Im übrigen werden die beiden "Marronnières" in den Regensburger Inventaren lediglich als "Credenzen" bezeichnet, ohne jeden Hinweis auf Maronen; ein Bleistiftzusatz nennt sie gar "Trüffelschüssel".
Die Ausführung der Maronengefäße durch die Firma Hunt and Roskell entspricht weitgehend einem Modell des Pariser Goldschmiede-Ateliers Odiot wohl aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, das exakt die gleiche Tellerform aufweist. Auch dort findet sich der florale Dekor der Damastserviette, die aus zwei gegeneinander um 45 Grad gedrehten Lagen besteht. Im Falle der Regensburger Exemplare ist die aus Blättern und Blüten gebildete Ornamentik geschickt mit dem die Mitte bezeichnenden Wappen des Fürsten Maximilian Karl von Thurn und Taxis verbunden, dessen Schildhalter sich in Gestalt aufsteigender Löwen über Ranken erheben. Bemerkenswert ist die hohe Qualität des in leichtem Relief getriebenen Dekors, der deutlich zwischen dem matten Grund und dem polierten Relief differenziert. Dadurch unterscheiden sich die hervorragend ausgeführten "Marronnières" der Manufaktur Hunt and Roskell maßgeblich von den eher industriell gefertigten Exemplaren der Firmen Odiot und Christofle, die sich des Mittels der Galvanoplastik, in Verbindung mit der Naturabformung der Servietten, bedienten.

BV002305296
Zu den Marken: John Culme, The directory of gold and silversmiths, jewellers and allied traders 1838-1914 from the London Assay Office Registers, 2 Bde.: The directory of gold and silversmiths, jewellers and allied traders. 1. The biographies: The directory of gold and silversmiths, jewellers and allied traders. 2. The marks, Woodbridge 1987, Bd. 2, S. 160, Nr. 8350-8358

BV022476472
Zu den Marken: Jackson's silver and gold marks of England, Scotland and Ireland 3. überarb. Auflage, Ian Pickford (Hrsg.), Woodbridge 1989, S. 62

BV002305296
Zur Firma: John Culme, The directory of gold and silversmiths, jewellers and allied traders 1838-1914 from the London Assay Office Registers, 2 Bde.: The directory of gold and silversmiths, jewellers and allied traders. 1. The biographies: The directory of gold and silversmiths, jewellers and allied traders. 2. The marks, Woodbridge 1987, Bd. 1, S. 245-247

BV012190176
Zum Objekt: Mus-Kat. Thurn und Taxis Museum Regensburg. Höfische Kunst und Kultur, Reinhold Baumstark (Hrsg.), München 1998, S. 199-203, Abb. S. 200, Kat.-Nr. 131a

BV004605883
Zum Objekt: Véronique Alemany-Dessaint, Orfèvrerie Française, Paris 1988, S. 129, Abb. 3

Collection

Sammlung Thurn und Taxis

Taxonomy

Maronière

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